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Weihnachtsgeschichte 2016

Stefanie fröstelte. Sie hatte zuhause raus gemusst, weg von dieser ätzenden Stimmung, und hatte sich schnell ihren Mantel und ihr Portemonnaie gegriffen, das Handy aber ganz bewusst zuhause gelassen. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Lange Schritte durch den Winternachmittag, die klare Luft brachte sie wieder ein bisschen zu sich und sie spürte, wie sie sich langsam abregte. Weit war es nicht bis in die Innenstadt, gut zehn Minuten zu Fuß, und sie wollte einfach ein bisschen über den Weihnachtsmarkt bummeln. Ohne Notwendigkeit, etwas zu kaufen, ohne  den Wechsel zwischen überheizten Geschäften und der Kälte draußen. Stefanie erreichte die ersten Läden am Anfang der weihnachtlich geschmückten Fußgängerzone. Wie schön! Tausende von Lämpchen schaukelten sacht im Wind, sie roch bereits die Mischung aus Glühwein und Kräuterbonbons, Frittenfett und Bratwurst, die so typisch für den Weihnachtsmarkt war. Schon als Kind hatte sie den Weihnachtsmarkt geliebt und war immer genau von hier aus mit ihrer Mutter in die Fußgängerzone eingebogen. Fast meinte sie, den Griff der mütterlichen Hand zu spüren, der sich immer etwas fester um ihr Handgelenk schloss, wohl wissend, dass die kleine Steffi sonst einfach voraus rennen und im Getümmel verlorengehen würde. Stefanie holte unbewusst Luft, um begeistert „Mama, guck mal, der Nussknacker!“ zu sagen, da sie für ein paar Sekunden in die Vergangenheit abgedriftet war. Doch ihre Mutter war nicht neben ihr. Stattdessen pochte der mittlerweile vertraute Schmerz auf, kurz und heftig, denn ihre Mutter war vor über drei Jahren gestorben. Zeit heilt alle Wunden, ja, sicher, doch in Momenten wie diesen und insgesamt in der Vorweihnachtszeit wurde Stefanie der Verlust immer wieder allzu deutlich. Steffi blinzelte energisch und ging etwas schneller. Weihnachten ging ihr dieses Jahr total auf die Nerven. Die letzten Wochen waren nur hektisch gewesen, der Paketbote hatte fast täglich geklingelt um neue Amazon-Lieferungen zu bringen, weil sie weder die Zeit, noch die Muße gefunden hatte, um nach Geschenken zu stöbern. Die Kinder hatten eh keine richtigen Wünsche mehr, und nach über zwanzig Ehejahren fiel es ihr auch immer schwerer, etwas für ihren Mann zu finden. Vor zwei Wochen hatte sie am Fenster eines Reisebüros gestanden und sehnsüchtig die Angebote studiert: Last Minute auf die Kanaren, 2 Wochen Fuerteventura, vom 18. Dezember an. Sie hatte tief geseufzt, das wär's doch, einfach in den Flieger steigen und ab in die Sonne, 14 Tage am Strand liegen und nichts planen, organisieren, kaufen, kochen oder aufräumen. Weihnachten einfach mal komplett ausfallen lassen und stattdessen Cocktails am Strand schlürfen … Mittlerweile war sie am großen Kaufhaus angekommen, an dessen Fassade ein riesengroßer Nussknacker lehnte. Sie stand genau vor einem der Stiefel, die ihr immer noch genau so gigantisch vorkamen wie in ihrer Kindheit. Grimmig und furchteinflößend sah der haushohe Nussknacker aus mit seinen großen, rechteckigen Zähnen im halb geöffneten Mund. Die Uniform mit den blank polierten Knöpfen verstärkte noch den strengen Eindruck. Als Kind hatte sich Steffi immer von dem Nussknacker beobachtet gefühlt und sich auf dem Weihnachtsmarkt besonders gut benommen, auf ihre Mutter gehört und nicht mal gequengelt, wenn sie keinen Liebesapfel bekam, obwohl sie die sehr gerne aß. Zu groß war die unbestimmte Angst, der Nussknacker würde alles mitkriegen und … tja, was genau, das wusste sie auch nicht, aber es hatte einmal für einen furchtbaren Alptraum gereicht, bei dem der Nussknacker sich krachend von der Fassade gelöst und seine riesigen, hölzernen Stiefel langsam in Bewegung gesetzt hatte, seine gewaltigen Zähne gefletscht wie immer. Steffi war schreiend aufgewacht, was ihr sehr peinlich war, denn sie war zu dem Zeitpunkt schon gute 12 Jahre alt. Im Schein der Nachttischlampe wurde ihr dann auch sofort klar, dass ihre Traumszene große Ähnlichkeit mit einer Szene aus Ghostbusters hatte, den sie wenige Tage vorher im Kino gesehen hatte. Trotzdem war dieser Nussknacker ihr nie so ganz geheuer, und wenn sie sich die Kinder anschaute, die gerade verstohlen an ihm hoch sahen, dann schien seine Wirkung auch heute noch unvermindert anzuhalten. Ach, die Kinder … seufzend drehte Stefanie sich um und ging auf den Glühweinstand zu. Wo waren ihre süßen Kleinen geblieben, die sich unbändig auf Weihnachten freuten? Die ab Anfang November schon sehnsüchtig auf den ersten Schnee warteten, auf die erste Plätzchenback-Aktion, die ab dem 1. Dezember morgens immer vor dem Wecker wach wurden, um schnell die Tür am Adventskalender zu öffnen? Stattdessen hatte sie jetzt zwei 'Pubertiere', die ihre ganz eigenen Vorstellungen von Familie und Feierlichkeiten hatten, am liebsten in ihren Zimmern waren und eigentlich nur runterkamen, um im Kühlschrank nach was Essbarem zu suchen oder sich Klamotten aus ihrem Schrank zu 'leihen'. An manchen Tagen hatte Stefanie das Gefühl, jedes Wort führte sofort zum Streit. Es war einfach nur noch anstrengend.Stefanie bestellte und bezahlte ihren Glühwein und drehte sich dann so, dass sie im Schutz der Bude stand, aber trotzdem das Geschehen auf dem Weihnachtsmarkt beobachten konnte. Sie merkte, wie der Ärger und auch, ja, auch heftige Wut wieder in ihr aufstiegen, als sie an ihre Familie zuhause dachte. Kein Wunder, dass sie türeknallend von zuhause geflohen war an diesem grauenhaften Tag. Andreas, ihr Mann, würde garantiert sagen, dass sie einfach zu hohe Erwartungen hätte … und, was war daran verkehrt? Durfte sie keine Erwartungen haben an die Vorweihnachtszeit, an den zweiten Advent? Durfte sie sich nicht wünschen, dass die Familie einfach mal ein bisschen enger zusammenrückte, Traditionen pflegte, den Adventssonntag als kleine Auszeit des viel zu hektischen Alltags nahm und sich mal wieder auf wichtige Dinge besann? Nein, anscheinend nicht. Zu viel verlangt. Morgens hatte sie  - wie immer am 2. Advent – angekündigt, dass nachmittags alle zusammen den Baum und das Haus schmücken würden. Noch letztes Jahr hatte ihre Tochter gesagt: „Oooooch, erst heute Nachmittag? Können wir nicht sofort anfangen?“ und auch ihrem Sohn konnte die Zeit nicht schnell genug vergehen. Aber heute? Alleine hatte sie die Kisten nach oben gewuchtet, Andreas hatte pflichtschuldigst den Baum aufgebaut und angeschlossen und sich dann mit „So, funktioniert alles.“ wieder an seinen Schreibtisch verzogen. Die Kinder hatte sie zwei Mal rufen müssen, bis sich ihre Tochter nach unten bequemte, Handy in der Hand und Kopfhörer im Ohr, gefolgt von ihrem Sohn, der in der Küche verschwand und sagte: „Ich hab erstmal Hunger ...“Und so ging es weiter. Die Kinder standen mehr im Weg, als dass sie helfen wollten, und zeigten vor allem auch deutlich ihre Unlust. Bemerkungen wie „Irgendwie haben wir total viel Schrott,“ oder „Mann, sind die Kugeln kitschig. Waren die immer schon so bunt?“ oder „Eigentlich ist Weihnachten ja ätzend, so ohne Schnee. Ich weiß auch eh nicht, was ich mir wünsche dieses Jahr …“ führten dazu, dass Stefanies Puls sich mehr und mehr beschleunigte. Als ihr Mann dann noch eine Weihnachts-CD auflegte und beide Kinder bei den ersten Tönen anfingen zu protestieren, platzte ihr der Kragen. „Mann, jetzt hört doch mal auf. Was ist denn los mit euch? Herrgott, Andreas, mach das doch mal leiser, wir müssen ja nicht die ganze Nachbarschaft beschallen!“ legte sie los. Ihr Mann, harmoniesüchtig wie immer, zog nur eine Augenbraue hoch, machte die Musik leiser und verzog sich wieder ins Nebenzimmer. Völlig ungerührt sah ihre Tochter sie an, verdrehte leicht die Augen und sagte: „Ich guck mal auf Spotify nach 'ner vernünftigen Christmas-Playlist ...“, während ihr Sohn aus der Küche rief: „Ich mach mir Rührei, brauchtest du die letzten 5 Eier noch?“Stefanie war sprachlos. Und so hatte sie sich auf dem Absatz herumgedreht,  vernehmlich: „Ihr könnt mich doch alle mal.“ gesagt und das Haus verlassen.Ihr Hand, in der sie den Glühwein hielt, zitterte. Ärgerlich wischte sie eine Träne aus dem Auge, auch, wenn sie noch so sauer war, musste sie ja nicht in der Öffentlichkeit anfangen zu heulen. Schließlich kannte sie genug Leute hier in Wappelborn und wusste, wie schnell Gerüchte entstanden. Stefanie Herrmann, die Geschäftsfrau, heulend alleine am Glühweinstand … da würde morgen gleich über Pleite oder Scheidung gehetzt. So sehr Steffi ihre Geburtsstadt liebte, manchmal würde sie liebend gern in der Anonymität einer Großstadt leben.Ihr Glühwein war fast alle und aus der Bude nebenan zog verführerischer Bratwurstduft herüber. Witzigerweise lief Steffi auch als langjährige Vegetarierin beim Geruch von Grillwürstchen immer noch das Wasser im Mund zusammen. Irgendwann hatte sie tatsächlich mal wieder ein Würstchen probiert, aber sobald sie auf die knorpelige Masse gebissen hatte, lief sie schon zum nächsten Mülleimer und spuckte das Wurststück aus. Andreas hatte sie belustigt angeguckt und in Ruhe seine Bratwurst zu Ende gemümmelt. Das mochte sie so an ihm, kein dummer Spruch, kein „Jetzt nimm dich doch mal zusammen!“, er ließ Steffi ihr Ding machen und akzeptierte, was ihr wichtig war, auch, wenn er nicht immer ihre Meinung teilte. Sie waren ein gutes Team, hatten die anstrengende Babyzeit mit den typischen Streits darüber, wessen Arbeit anstrengender war, gut überstanden und hatten die Dinge angesprochen, bevor sie eskalieren konnten. Auch ihre Entscheidung, wieder zu arbeiten, als die Kinder größer und selbstständiger wurden, hatte er immer unterstützt und mitgetragen. Und so hatten sie schon lange eine freundschaftliche und liebevolle Art des Zusammenlebens gefunden, bei der jeder genug Freiraum für sich und seine Interessen hatte. Allerdings ertappte Steffi sich in letzter Zeit immer öfter beim Gedanken, ob ihr das reichte. Sie hatte Andreas auch schon mal darauf angesprochen, ihn gefragt, was er eigentlich so planen würde für die Zeit, wenn beide Kinder aus dem Haus wären. Er hatte sie erstaunt angeblickt und gesagt: „Wieso planen? Ist doch herrlich, kein Chaos mehr, kein nächtliches Abholen von irgendwelchen Partys … da plane ich nicht, da freue ich mich drauf, endlich meine Ruhe zu haben. Du denn nicht?“ Und natürlich hatte Steffi nur gelächelt und genickt, mit dem dumpfen Gefühl, mal wieder zu viel Lärm um nichts zu machen … Irgendwie brachte sie der Weihnachtsmarkt nicht so in bessere Stimmung, wie sie sich das vorgestellt hatte. Ganz im Gegenteil: Die vielen glücklichen Familien mit den kleinen Kindern, deren Augen glänzten und die mit roten Näschen und Wangen Runde um Runde im Kinderkarussell drehten, die verliebten jungen Paare, die eng umschlungen in den Ecken der Buden standen, das alles fand sie eher frustrierend. Na, es war auch schon fast 18:00 Uhr, vielleicht sollte sie sich langsam mal auf den Heimweg machen.Stefanie ging los, sog noch einmal den Weihnachtsmarktduft ein und bahnte sich ihren Weg durch die Stände. Sie musste einen anderen Weg wählen, da zwischen den zwei größten Glühweinbuden mittlerweile kein Durchkommen mehr war, und so wandte sie sich nach rechts und ging auf die kleine Gasse zu, die sie um die Kirche herum wieder in Richtung Zuhause leiten würde.Uff, endlich mehr Platz und weniger Getöse. Erst, als sie die schmale Gasse mit den geschlossenen Lädchen betrat, merkte Steffi, wie laut und voll es auf dem Weihnachtsmarkt eigentlich war. Hier hallten ihre Schritte auf dem alten Kopfsteinpflaster und sie zog unwillkürlich die Schultern hoch, als ein kalter Windstoß sie von vorne traf. Brrr, schnell nach Hause und ins Warme. Doch etwas am Ende der Gasse machte sie aufmerksam, etwas flackerte und ab und zu drangen leise Töne an ihr Ohr. Eine Melodie, ein Lied? Neugierig ging Stefanie schneller.Als sie um die leichte Kurve bog, der die Gasse um die Kirche herum folgte, sah sie zwei große Laternen auf dem Boden stehen, fast so groß wie sie selbst, in deren Inneren ebenso mächtige Kerzen brannten. Dieses Geschäft hatte Stefanie noch nie bewusst gesehen, dabei nutzte sie öfter diese Gasse als Abkürzung. Merkwürdig. Die Laternen standen links und rechts einer niedrigen Holztür, die typisch für die kleinen, alten Häuser am Kirchplatz war. Auch die  Sprossenfensterchen waren erleuchtet, zum Teil mit Kerzen, zum Teil durch sanft strahlende Lichterketten. Zwei kleine runde Tische standen vor dem Häuschen mit je zwei Stühlen … war hier ein Café? Als Steffi vor dem einen Fenster stand, konnte sie deutlich die leise Musik hören, die anscheinend aus einem Außenlautsprecher kam. Wunderbare Weihnachtsmusik, aber nicht diese grässlichen amerikanischen Lieder, die in jedem Kaufhaus dudelten, sondern feine Melodien – verschiedene Flöten und eine Harfe erkannte Steffi – die gleichzeitig trösteten und Sehnsucht weckten. Steffi versuchte, durch das Fenster ins Innere zu schauen. Ja, es war tatsächlich ein Café. Oder? Als erstes fielen ihr die vielen Regale auf mit Unmengen von Büchern, wie in einer Buchhandlung. Aber es stand auch ein altertümliches Sofa an der einen Wand, dunkelroter Samt und schon ein wenig verschlissen. In einem kleinen Specksteinofen flackerte ein Feuer, in dessen freundlichem Licht Steffi weitere kleine Tische und Stühle ausmachen konnte. Viel mehr konnte sie aus diesem Winkel nicht sehen, außerdem versperrte ihr ein Trägerbalken im Raum die Sicht auf das, was dahinter lag. Was für ein wunderschöner und faszinierender Ort, hier wollte sie bei ihrem nächsten Stadtbummel einmal hineinschauen. Doch jetzt wurden ihre Füße kalt und sie musste auch langsam nach Hause. Widerstrebend drehte Steffi sich um.Ein zartes Glöckchen hinter ihr ließ sie wieder herumfahren. Die Tür wurde geöffnet und eine Frau, vielleicht zehn Jahre älter als sie selbst, lächelte sie an. Unwillkürlich lächelte Steffi zurück, die Frau war ihr sofort sympathisch und kam ihr irgendwie auch total bekannt vor. In ihrem Job war sie gewohnt, Leute auf den ersten Blick einzuschätzen und in Kategorien einzuteilen, doch diese Frau passte so recht in keine ihrer üblichen Schubladen. Sie war sehr natürlich, trug kein Make-up und viele Silberfäden durchzogen ihre schulterlangen Haare. Die Lachfalten um ihre Augen und um ihren Mund schienen ihr nichts auszumachen, jedenfalls konnte Steffi nichts erkennen, was dazu dienen sollte, Falten zu kaschieren. Sie war ganz in schwarz gekleidet mit einer engen Hose und einem flauschigen Pullover, dazu trug sie bequem aussehende Wildlederstiefel. Ihr einziges Accessoire war eine wunderschöne, lange und filigrane Silberkette mit einer Art Glastropfen, der in Silberfäden eingesponnen zu sein schien. Steffi erkannte sofort, dass das Silber echt war, der Glastropfen ein Bergkristall war und auch die Kleidungsstücke der Frau auf dezenten Luxus hindeuteten. Cashmere-Pullover, Wildlederstiefel, dazu der dezente und zart-herbe Duft eines teuren Parfüms … Steffi war beeindruckt von der ruhigen, selbstsicheren Gelassenheit, die diese vertraute Fremde ausstrahlte und merkte, dass sie sie beinahe schon unhöflich anstarrte. Wie peinlich! Steffi nickte verlegen lächelnd und wollte sich nun endgültig auf den Weg machen, doch die Fremde sprach sie an: „Ich habe dich draußen in der Kälte stehen sehen, komm doch rein. Auf die paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an, Steffi. Kaffee?“Stefanie stand da wie vom Blitz getroffen. Woher kannte die Frau ihren Namen?„Was … Wer … Woher ...“ stotterte Steffi, doch die Frau hatte sich schon längst herumgedreht und war hineingegangen, die Tür fiel langsam zu. Steffi wollte einfach gehen, doch sie hatte das Gefühl, dass sie der schmaler werdende Lichtschein, der durch die sich schließende Tür schien, fast hypnotisierte. „Schnell,“ schien er zu flüstern, „wenn die Tür einmal geschlossen ist, ist es zu spät.“ Ohne es bewusst zu steuern machte Steffi einen großen Schritt nach vorne, ja, sie sprang fast, und stellte ihre Fußspitze gerade noch in die Tür, bevor diese ins Schloss fiel. Albern, total albern. Und superpeinlich. Gut, dass ihre Tochter nicht dabei war, die würde wieder mit den Augen rollen und „Mama!“ zischen. Etwas verlegen drückte Steffi die Tür auf und trat ein. Sobald sie in dem kleinen Raum stand, schloss die Tür sich mit hörbarem Klicken. Aber das bemerkte Steffi gar nicht wirklich, denn sie war völlig gefangen von der Atmosphäre, den Gerüchen und der Musik, die hier deutlicher zu hören war. Was für ein fantastischer Raum! Überall, wirklich überall gab es etwas zu schauen und zu entdecken. Trotzdem wirkte es nicht überladen, sondern – genau wie die Inhaberin – sehr stilvoll. Vier kleine runde Tische plus der Couchtisch vor dem Sofa boten Platz für vielleicht 15 Gäste. Jeder Tisch und jeder Stuhl war anders, teilweise wirkten sie wie zufällig zusammengewürfelt, aber der Gesamteindruck war stimmig und einfach nur gemütlich. Kleine Lampen, Lichterketten und Kerzen tauchten alles in diffuses Licht, trotzdem war es nicht zu dunkel. Und an den Wänden gab es neben den vielen Büchern in verschiedenen Regalen auch noch kleine Bilder, Postkarten oder Fotos, dazu hingen zwei Kristalle in den Fenstern, die bei Sonnenschein bunte Regenbogen an die Wände zaubern würden. Steffi hatte selbst so ein Prisma zuhause und liebte den Effekt. Überhaupt traf hier alles absolut ihren Geschmack, es war faszinierend und lud zum Bleiben ein, war aber nicht plüschig oder billig. Es war fast, als hätte jeder Gegenstand eine Vergangenheit, eine Geschichte. Steffi konnte fühlen, wie jegliche Anspannung und jegliche Sorge sich auflösten und wie der hässliche Kloß in ihrem Hals, der schon lange ihr täglicher Begleiter war, zu schmelzen schien. Da ließ ein lautes Zischen hinter ihr sie fast vor Schreck in die Luft springen.Mit rasendem Herzen fuhr Stefanie herum und blinzelte ins Halbdunkel der Zimmerecke. Hinter einer kleinen Theke aus poliertem Holz stand die Frau neben einer blitzenden Kaffeemaschine, an der sie mit einem Lappen und einem Kännchen hantierte. Steffi musste lachen; seit wann brachte ein Dampfstoß sie so außer Fassung? Allerdings zogen die Kinder sie immer auf, wie schreckhaft sie sei und machten sich darüber lustig, dass sie beim Fernsehen manchmal leise aufschrie, wenn etwas Gruseliges oder Überraschendes passierte. Die Frau lächelte Steffi an und in ihrem Blick lag etwas Wissendes, als ob sie ihre Gedanken lesen könnte. Merkwürdig. So wie alles hier. Zögernd ging Stefanie näher an die Theke und setzte sich halb auf einen der zwei Barhocker. Sie wusste nicht einmal, was sie zuerst fragen sollte, so sehr schwirrten ihre Gedanken im Kopf umher. Gerade, als sie Luft holte, um etwas zu sagen – irgendetwas! - stellte die fremde Frau einen Latte Macchiato vor sie hin. Mit einer Prise Zimt und einem Amarettini – genau so, wie Steffi ihn sich zuhause gern machte. „Wer sind … bist du? Woher weißt du meinen Namen?“ platzte Steffi raus. Die Fremde schmunzelte und drehte sich weg, um ihren eigenen Kaffee zu machen, ohne ihre Frage zu beantworten. Wenig später saß sie Steffi gegenüber, mit dem gleichen Getränk vor sich. „Wer ich bin, willst du wissen?“ fragte sie endlich, während sie ihren Keks in den Milchschaum stippte – fast zeitgleich mit Steffi, die wie gewohnt ebenfalls ihr Amarettini durch den Schaum zog und nun innehielt. Aber gut, das machten viele Menschen mit dem Keks zum Kaffee. Die Frau musterte sie fast prüfend und steckte sich langsam den Keks in den Mund. Steffi sah sie gebannt an und bemerkte, dass die Augen Ihres Gegenübers von einem tiefen Olivgrün waren. So eine Augenfarbe hatte Stefanie bisher nur bei einer anderen Gelegenheit gesehen – jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute.Steffi wurde eiskalt. Was war das hier? Drehte sie durch? Hatte sie einen Nervenzusammenbruch? Andererseits: Jemand, der auch gerne seine Kekse in Milch stippte und zufällig auch eine seltene Augenfarbe hatte … das war nicht wirklich ungewöhnlich, oder?„Ich heiße … Jenny,“ sagte die fremde Frau. Steffi merkte, dass sie den Atem angehalten hatte und atmete tief ein. Jenny. Was hatte sie denn erwartet? Irritiert schüttelte Steffi den Kopf und nahm einen großen Schluck Kaffee. „Und woher ich deinen Namen weiß? Nun … ich habe meinen Laden nun schon knapp zehn Jahre, da hört und sieht man einiges.“ „Zehn Jahre?“ fragte Steffi ungläubig. „Das kann nicht sein, das wäre mir doch aufgefallen, so oft, wie ich hier langgehe.“Mit rätselhaftem Lächeln sagte Jenny: „Man sieht nur das, was man sehen will. Es war bisher einfach nicht die richtige Zeit. Aber heute kommt für dich viel zusammen, oder?“Steffi schluckte. Sah sie so fertig aus, oder woher wusste Jenny auch das schon wieder? Mann, und natürlich verschwamm auch ihre Sicht und sie musste sich zusammenreißen um nicht loszuheulen. Das passierte ihr im Moment andauernd. Jenny saß einfach da und schaute sie an, nicht mitleidig, nicht spöttisch, eigentlich nur sehr verständnisvoll. Und als hätte sie einen verborgenen Knopf gedrückt, platzte alles aus Steffi raus. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, selbst dann nicht, als Jenny eine weitere Runde Latte Macchiato machte und die beiden Gläser hinüber zum Sofa am Kamin trug. Fast synchron zogen beide Frauen die Schuhe aus und machten es sich auf dem großen Sofa bequem, hielten die warmen Getränke in beiden Händen, und während Steffi erzählte und erzählte, hörte Jenny einfach nur zu, völlig ruhig und wieder mit dieser bewundernswerten Gelassenheit. Plötzlich löste sich aus der Dunkelheit ein Schatten und sprang auf die Sofalehne.„Hast du mich erschreckt,“ lachte Steffi, als der kleine Kater neben ihrem Ohr landete und sofort zu schnurren anfing, bevor er zielstrebig die Lehne herunterkletterte und sich auf ihren Füßen zusammenrollte. „Oh, du hast eine Katze, wie ich dich beneide. Ich wollte immer eine Katze, aber meine Tochter wurde als Kind mal böse gekratzt und hat seitdem totale Panik. Tja, und wie das so ist als gute Mutter, da stellt man die eigenen Bedürfnisse ja immer hinter die seiner Kinder zurück. Oder?“ sagte Steffi leicht ironisch. Jenny nickte nur, dieses Mal aber mit hochgezogenen Augenbrauen. Mehr brauchte Steffi gar nicht, um den Faden wieder aufzunehmen. Sie redete sich alles von der Seele, was sich über die letzten Monate aufgestaut hatte. Wie genervt sie oft von den Kindern war, die ihrem Teenager-Alter entsprechend nur um sich selbst kreisten, Forderungen stellten, aber gleichzeitig völlig immun gegen die Wünsche oder Bedürfnisse ihrer Mutter zu sein schienen. Die Arbeit als Lektorin, die zwar gutes Geld brachte, aber die Sehnsucht, selbst zu schreiben oder sich wenigstens mit selbst gewählten Büchern zu beschäftigen, nicht stillen konnte. Ihr Mann, der in seinem Beruf aufging und viel Zeit in der Firma verbrachte, so dass sie sich oft allein fühlte mit allen Anforderungen rund um das Haus und die Familie. Das Gefühl, immer etwas auf der Strecke zu lassen, sich nie zu 100 % einer Sache widmen zu können, am allerwenigsten sich selbst. Mittlerweile wusste sie schon kaum noch, was ihre eigenen Wünsche und Träume eigentlich waren. „Aber manchmal, ganz manchmal, da hätte ich gern ein ganz anderes Leben. Ohne Mann, ohne Kinder, ohne Verpflichtungen. Einfach nur ich selbst sein ...“ beendete Stefanie ihren Monolog und rührte im Kaffeerest, der inzwischen kalt geworden war. Ohne Worte stand Jenny auf und ersetzte die leeren Gläser durch zwei dampfende Gläser mit frischem Latte. Steffi kraulte den Kater und starrte ins Leere. Was hatte sie da gerade alles dieser fremden Person erzählt? Klang das jetzt nicht, als wäre sie total überfordert und unglücklich? Wer war Jenny eigentlich – und was, wenn sie das alles am nächsten Tag brühwarm ihren Stammkunden erzählte? Unbehaglich rutschte Steffi auf dem Sofa herum, so weit der schlafende Kater es zuließ. Vielleicht sollte sie besser gehen?Doch schon stand Jenny da, stellte die beiden Gläser auf den Couchtisch und hockte sich vor das Sofa. Sie legte eine Hand auf Steffis Arm und schaute ihr eindringlich in die Augen: „Ich danke dir für dein Vertrauen. Du kannst dir sicher sein, dass ich dich voll und ganz verstehe, jeden deiner Gedanken nachfühlen kann und alles für mich behalten werde.“Verdammt, die Frau konnte wirklich Gedanken lesen …Jetzt nahm Jenny ihre wundervolle Kette ab und schaute Steffi fragend an. „Willst du wirklich ein anderes Leben? Mal wissen, wie es wäre, wenn du damals im Studium das Auslandssemester nicht gecancelt hättest, weil du Andreas kennen gelernt hast?“ Steffi war von Jennys Stimme und der Intensität in ihrem Blick total in den Bann gezogen und wunderte sich nicht einmal, woher diese wohl die ganzen Details aus ihrem Leben kennen konnte. Sie nickte. Jenny hängte ihr die Silberkette mit dem Glastropfen um. Automatisch umschloss Steffi den Tropfen mit der Hand und war überrascht, wie warm er sich anfühlte. Fast, als pulsiere er. Jennys Stimme schien von weit her zu kommen, als sie forderte: „Sag es. Sag es, Steffi, was willst du?“ Steffi schloss kurz die Augen, holte tief Luft und sagte fast trotzig: „Ich will ein anderes Leben. So, wie es hätte sein können ...“Der Glastropfen zwischen ihren Finger vibrierte jetzt tatsächlich, außerdem wurde er sehr heiß. Steffi schrie auf, der Kater sprang protestierend maunzend von ihren Füßen, während der Raum um das Sofa herum sich zu drehen schien. Was war das? Was passierte? Steffi krallte sich im Sofa fest, alles drehte und drehte und drehte sich, sie hörte ein Rauschen, das immer lauter wurde, es wurde auch immer wärmer und wärmer. Das war das letzte, was sie fühlte, bevor sie ohnmächtig wurde.Stefanie Strobel erwachte von ihrem kleinen Mittagsschläfchen, das sie im Schatten der knorrigen Zeder gehalten hatte. Die Wellen rauschten träge, der leichte Seewind machte die Mittagshitze erträglich. Sie liebte diesen Teil des Strandes, an dem das Wäldchen aus Pinien und Zedern bis fast an die Wasserkante reichte. Faul tastete sie im Sand nach ihrer Sonnenbrille und dem Manuskript, an dem sie gerade arbeitete.Ein weiterer Roman einer jungen Schriftstellerin, sogar recht vielversprechend, wenn auch mit einigen Längen. Stefanie fand es faszinierend, dass es immer noch neue Themen gab, über die man schreiben konnte. Nachdem der Hype um Fantasy-Romane, die nicht nur Kinder gerne lasen, etwas abgeklungen war und auch die Softerotik-Welle so schnell wieder in der Versenkung verschwunden war, wie sie aufgetaucht war, kamen nun Bad-Boy-Geschichten ganz groß raus. Stefanie gähnte. Stories wie in den 80ern … hilfloses Mädchen verknallt sich in großen Unbekannten, der natürlich ein gefährliches Geheimnis hat. Eltern sind gegen die Verbindung (wenn das Mädel überhaupt Eltern hatte, gerne handelte es sich auch um junge Mädchen, die durch einen Unfall zur Vollwaise geworden waren), viel Hin und Her, viele Heimlichkeiten, Missverständnisse, enttäuschte Liebe und dann – zack – doch ein Happy End, weil der Bad Boy natürlich gar nicht so bad war und sich alles in Wohlgefallen auflöste. Nach diesem Schema entstanden momentan Romane wie Pilze auf der Wiese, darunter einige, die Steffi bereits nach 5 Seiten als unbrauchbar klassifizierte und an den Verlag zurückschickte. Ob sie damit den Lebenstraum eines jungen Autors oder einer aufstrebenden Autorin zunichte machte, war ihr dabei völlig egal, schließlich war sie nicht die Wohlfahrt.Am Anfang ihrer Tätigkeit als Lektorin beim Schaffrath-Verlag hatte sie noch oft gedacht, sie könne ebenfalls so was schreiben – und zwar mit links. Doch nach einigen gescheiterten Versuchen musste sie sich eingestehen, dass sie wirklich nicht als Autorin geeignet war. Seitdem hatte sie sich voll und ganz dem Lektorat gewidmet und sich eine fantastische Position im Verlag erarbeitet. Nach dem Studium hatte sie ihre Auslandserfahrungen, die mit ihrem Austauschsemester in den USA begonnen hatten, noch vertieft und war knapp 18 Monate durch die Welt gereist. Ihre Eltern waren erst entsetzt, dass sie 'als junges Mädchen ganz allein so eine gefährliche Reise' auf sich nehmen wollte, blabla, doch Steffi war dermaßen fest entschlossen gewesen, dass ihre Eltern schließlich zugestimmt hatten. Nicht, dass sie es ihr hätten verbieten können, schließlich war Steffi schon längst erwachsen, aber es war halt doch ein schöneres Gefühl – und die Finanzspritze der Eltern half ihr natürlich auch bei der Planung. Nach 18 Monaten in Afrika, Australien, Neuseeland, Indonesien und Russland sah sie sich als absolute Weltbürgerin. Dabei hatte sie auch einige aberwitzige Situationen durchgestanden und kam tatsächlich irgendwie als neuer Mensch zurück. Allerdings konnte sie von den meisten ihrer Abenteuer ihren Eltern nun wirklich nicht erzählen …„In jedem Hafen einen Bräutigam,“ sagte ihre beste Freundin Sandra immer, wenn sie sich über die Zeit damals unterhielten. Sandra und sie hatten sich im Studium kennen gelernt und auch einen Teil der Reise gemeinsam geplant. Sandras Wege führten sie aber erst nach Amerika, bevor sie sich in Neuseeland trafen und drei Wochen zusammen auf einer Farm arbeiteten und lebten. Ja, ganz unrecht hatte Sandra mit dem spöttischen Spruch nicht, sie beide hatten nichts anbrennen lassen und die Zeit komplett genossen. Stefanie vielleicht noch ein bisschen mehr als Sandra, die mittlerweile brav verheiratet war mit ihren zwei halbwüchsigen Kindern und dem Baby, als das sich ihre scheinbaren Wechseljahresbeschwerden entpuppt hatten. Steffi musste grinsen, als sie an den panischen Anruf ihrer damals 43jährigen Freundin dachte, an die Tränen und das „Ich kann das alles nicht mehr, Steffi, was soll ICH denn mit einem Baby?“ Geheule – und daran, wie hingebungsvoll Sandra jetzt, zwei Jahre später, mit Ronja umging. Wann immer Steffi sie besuchte und ihr Patenkind sich freudig auf sie stürzte, mit ihr kuschelte und spielte, genoss sie jeden Moment. Und mit ihren 46 Jahren hatte sie sich in solchen Momenten auch manchmal gefragt, wie sie als Mutter gewesen wäre oder ob es überhaupt den einen Mann für sie gegeben hätte, mit dem sie sich Kinder, eine Familie und – gruselige Vorstellung – ein Häuschen mit Garten gewünscht hätte. Wenn sie darüber nachdachte und Ronja sich, vom Toben erhitzt, müde an sie kuschelte, dann verspürte Steffi ganz klar ein wehmütiges Ziehen im Herzen. Aber so war es nun mal, sie hatte sich für ein anderes Leben entschieden, hatte sich ihre Unabhängigkeit bewahrt und sich nie zu fest an jemanden gebunden, auch wenn ihre Eltern darüber mehr als enttäuscht waren. Dafür hatte Steffi bereits jetzt mehr erlebt und erfahren, als ihre Mutter in ihrem ganzen Leben. Steffi schaute über das glitzernde blaue Meer bis zum Horizont und dachte an ihre Mutter, die vor knapp 3 Jahren gestorben war. Das beste Verhältnis hatten sie nie gehabt, die stummen Vorwürfe über ihre Lebensweise hatten sie immer schon kurz nach einer Rückkehr wieder aus dem Elternhaus getrieben. Ihre Mutter hatte ihr stets deutlich gezeigt, dass sie mit Stefanies Leben nichts anfangen konnte. Irgendwann fragte sie gar nicht mehr nach, mit wem sie zusammen war oder ob sie nicht doch noch ein Enkelkind erwarten könnte. Auch Stefanies Job und ihr Aufstieg nach dem Volontariat interessierten sie nicht wirklich, da sie selbst immer voll und ganz in ihrem Fünfzigerjahre-Hausfrauen-Traum aufgegangen war. Ja, eigentlich hätten sie gegensätzlicher nicht sein können, Steffi und ihre Mutter, und als Papa sie vor drei Jahren auf dem Handy erwischte und ihr vom Herzinfarkt erzählte, da fühlte sie sich merkwürdig unbeteiligt. Eigentlich war sie eher etwas genervt, dass sie nun die Leipziger Buchmesse wegen der Beerdigung nicht besuchen konnte und stattdessen in Wappelborn, diesem Kaff aller Käffer, für mindestens 3 Tage feststeckte. In ihrem alten Jugendzimmer und mit dem grauenhaften Filterkaffee zum Frühstück. Steffi schüttelte sich und trotz der Sonne lief ihr ein Schauder über den Rücken, wenn sie an die spießige Gartenzwerg-Idylle ihrer Eltern dachte. Wie die beiden es so lange miteinander ausgehalten hatten, war ihr immer ein Rätsel gewesen. Sie jedenfalls war immer froh, wenn die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel.Stefanie stand von der Liege auf, um sie wieder in den Schatten zu rücken, da die Sonne ein ganzes Stück gewandert war. Vielleicht sollte sie sich von der Strandbar auch gleich einen neuen Cocktail holen, mittlerweile hatte sie echt Durst. Als sie hinüberschaute um zu sehen, wie voll es am kleinen Pool ihrer Lieblingspension war, sah sie einen Mann über den Strand auf sich zukommen. Groß, muskulös, gutaussehend, perfekte Zähne, wahrscheinlich ein Gast des Zahnarztkongresses auf der Insel. Ihr Beruf hatte Steffi darin geschult, blitzschnell Menschen einzuschätzen und in eine Schublade zu stecken. Und die Schublade für diesen Typ hier hieß: Familienvater, eine Woche Kongress, als Belohnung für die harte Arbeit abends ein bisschen Spaß und Freizeit, und einem Abenteuer nicht abgeneigt. Steffi lächelte ihn einladend an; das versprach eine interessante Abwechslung für ihre trüben Gedanken zu werden.„Hallo, soll ich Ihnen mit der Liege helfen?“ Steffi lächelte weiter, obwohl sie innerlich mit den Zähnen knirschte. 'Ich Frauchen, du starker Mann, oder was wird das?' dachte sie sich. Würg. Na gut, erstmal abwarten. Beherzt packte er sich die Liege und trug sie weiter in den Schatten. „Ich bin übrigens Jörg, Zahntechniker“ sagte er und streckte ihr eine Hand hin. „Jenny“ sagte Steffi und schüttelte seine Hand. Ums Verrecken würde sie so einem Schmierlapp ihren echten Namen nicht geben – das hatte sie sich schon seit der Uni angewöhnt und sich das Pseudonym Jenny zugelegt, das in jedem Land der Welt funktionierte. „Darf ich dich zu einem Drink einladen? Lass mich raten – so eine süße Frau wie du trinkt bestimmt auch was Süßes … Pina Colada? Ich bin ja eher der Typ für Sex on the Beach … also als Drink ...haha.“ Oh Gott. Ein Charmeur erster Kajüte. Hinter seinem Rücken verdrehte Steffi die Augen. Wahrscheinlich fuhr er morgen wieder ab und hatte sich für den letzten Abend und die letzte Nacht einiges vorgenommen. Steffi war normalerweise niemand für One-Night-Stands. Klar sah sie auch mit 46 noch klasse aus, hielt sich mit Sport und gezielter Ernährung in Topform und konnte sich selbst wirklich gut im Spiegel anschauen. Trotzdem hatte sie ihre wilden Jahre hinter sich und die Sache mit dem Hörnerabstoßen während ihrer Weltreise zur Genüge erledigt. Wenn sie heute an die Zeit zurückdachte, konnte sie sich selbst gar nicht recht verstehen, sie war wie im Rausch gewesen. Allerdings hatte sie in dieser Zeit auch gelernt, gut auf sich aufzupassen und sich wenn nötig schlagkräftig zu verteidigen. Insofern wartete sie erst einmal ab, wie sich das mit Jörg noch entwickelte – verziehen konnte sie sich immer noch. In ihre Gedanken versunken stolperte sie im weichen Sand, und – natürlich – hatte sie sofort seine Hand auf ihrem Rücken. „Hoppala, na, da pass ich wohl besser mal auf dich auf, hm?“ ließ er sich auch die Chance nicht nehmen, sich als großer Beschützer aufzuspielen. Das konnte ja noch heiter werden.An der Strandbar war es dann doch ganz nett und nachdem sie klargestellt hatte, dass 'so süße Frauen wie sie' lieber einen trockenen Martini trinken, hatte sie mit Jörg eine gute Zeit. Klar erzählte er lang und breit von seiner Arbeit, von seinem beruflichen Erfolg und tollen Geschichten aus dem Studium (vor über zwanzig Jahren …), während er es geschickt umschiffte, seinen Familienstand, Nachnamen oder Wohnort zu erwähnen. Steffi sollte es recht sein. Die helle Linie an seinem Ringfinger war trotzdem nicht zu übersehen, aber wenn er für ein paar Tage so tun wollte, als wäre er nicht verheiratet … wer war sie, darüber zu urteilen? Sie würden sich eh nicht wiedersehen. Trotzdem nagte etwas an ihr, und das lockere Flirten fiel ihr nicht so leicht wie sonst. Vielleicht hatte sie zu lange geschlafen und doch etwas viel Sonne abbekommen, vielleicht lag es an den zwei Martini in Verbindung mit der Wärme, jedenfalls war sie etwas ruhiger als sonst und das oberflächliche Geschwafel fing an, ihr auf die Nerven zu gehen. Mittlerweile saßen sie allein an der Bar, die Sonne war fast ganz untergegangen, Steffi hatte ihr Strandkleid und die leichte Jacke übergeworfen, während Jörg ein Hemd über seine Shorts gezogen hatte. So ließ es sich gut aushalten und in einer Gesprächspause schaute Steffi Jörg von der Seite verstohlen an. Er sah gut aus, daran bestand kein Zweifel. Wie wäre es, so jemanden jeden Tag zu sehen? Als erstes morgens früh, als letztes vor dem Einschlafen? Ihn vielleicht nicht Jörg, sondern Schatz oder Schnucki zu nennen … oder Bärchen? Steffi musste grinsen. Nein, nicht so was, sie war nicht der Typ für Kosenamen. Sie hatte ja auch Andreas damals nicht mal Andi genannt, sondern immer nur bei seinem vollen Namen. Wo kam denn das jetzt her? Wieso dachte sie aus heiterem Himmel an Andreas? Es lag an Jörgs Oberlippe, fiel ihr auf. Er hatte einen ähnlichen Mund und vor allem diese leicht asymmetrische Oberlippe, durch die er ständig spöttisch zu lächeln schien. In dieses schiefe Grinsen hatte sie sich damals auf der Uniparty Hals über Kopf in Andreas verknallt. Wie es ihm wohl heute ging? Sie hatte ihn vor ein paar Jahren, an einem rotweinschweren, melancholischen, einsamen Abend sogar mal gegoogelt. Aber für Andreas Herrmann gab es zigtausend Treffer, zumal sie ja nicht mal wusste, wohin er damals verschwunden war … ob er überhaupt zu Ende studiert hatte oder einen ganz anderen Beruf ergriffen hatte. Sie zuckte zusammen, als sich plötzlich eine warme Hand auf ihre legte: „Was schaust du mich so an?“ fragte Jörg mit kehligem Flüstern und beugte sich näher zu ihr. Jetzt oder nie, dachte Steffi, jetzt entscheidet sich der weitere Abend.„Weiß deine Frau eigentlich, was du auf Kongressen so treibst?“ fragte Steffi ungezwungen und ohne Vorwurf. Jörg zuckte zurück, als hätte sie ihn mit kaltem Wasser übergossen. „Was? Ich … wieso … ich meine, Frau … wieso Frau ..?“ sagte er lahm. Steffi tippte auf den weißen Streifen an seinem Finger. „Oh, Shit,“ sagte er leise und rieb über die Stelle, als könne er sie wegmachen. Er nahm einen großen Schluck von seinem Cocktail, sah sie an und strich sich ungelenk durch die Haare. Dann holte er tief Luft und fing an zu erzählen. Von seiner Frau, mit der er nächstes Jahr Silberhochzeit feiern würde. Sil-ber-hoch-zeit! Ein Kind hatten sie, einen Jungen, der aber mittlerweile zum Studium 750 km weit weg gezogen war. Seitdem kreisten er und seine Frau umeinander wie ein Planet und sein Satellit. Fanden sich in ihre neuen Rollen nicht ein. Waren sprach- und hilflos, hatten Erwartungen aneinander, die beide nicht zu erfüllen wussten. Konnten nicht richtig miteinander reden, weil sie das seit Jahren verlernt hatten. Doch das vorwurfsvolle Schweigen hielt er auch nicht aus. Da kam die Einladung zum Kongress zwei Wochen vor Weihnachten wie gerufen; dass Ehepartner willkommen waren, hatte er seiner Frau verschwiegen. Und nun, nach 5 Tagen, fühlte er sich total frei und ungebunden, fast wie früher, zu Studienzeiten. Steffi war ihm schon vor zwei Tagen aufgefallen, und heute, am letzten Abend, wollte er es einfach wissen. Ob er es noch drauf hatte, noch attraktiv für andere Frauen war … ob es ein anderes Leben für ihn geben könnte. Dann fragte er fast aggressiv, ob sie wüsste, wie das sei, 25 Jahre mit ein und derselben Person verheiratet zu sein. Mit allem, was dazugehört. Tag für Tag für Tag …Jörg biss sich auf die Lippen, fuhr sich wieder durch die Haare und schaute zum mittlerweile dunklen Meer.Steffi schwieg einen Moment. Dann nahm sie Jörgs Hand, groß und warm in ihrer, und drückte sie kurz. Überrascht schaute er sie an.„Nein,“ sagte sie leise „ich weiß nicht, wie es ist, jeden Tag mit derselben Person aufzuwachen. Ich habe keine Ahnung, wie man mit jemandem zusammenlebt, der einen durch und durch kennt. Jemand, der einen im Abendkleid ebenso attraktiv findet wie mit Jogginghose und Sweatshirt. Ich weiß nicht, wie es ist, eine Geburt zu erleben, sich Sorgen um ein fieberndes Kind zu machen, die richtige Schule auszusuchen oder morgens mit einer Familie am Frühstückstisch zu sitzen, inklusive der neuen Freundin des Sohnes. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn der andere die größten Träume und Wünsche kennt, aber auch die tiefsten Ängste und Sorgen. Wenn man ohne Worte miteinander lachen oder trauern kann und jemanden hat, bei dem man seine Maske abnehmen kann. Ich kannte mal jemanden, mit dem hätte das vielleicht so werden können. Aber ich hab es verbockt. Darum, Jörg, habe ich keine Ahnung, wie es ist, kurz vor der Silberhochzeit zu stehen. Und ich werde es mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr erfahren. Aber weißt du was? Und das sage ich nur dir und nur heute Abend und wahrscheinlich auch nur, weil ich ein bisschen viel getrunken habe: Ich beneide dich. Sehr sogar.“Steffi lächelte ihn schief an und blinzelte ein bisschen. Mann, was war heute bloß mit ihr los? Auch Jörg guckte sie an, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf, er war völlig sprachlos. Dann fing er an den Kopf zu schütteln, raufte sich nun richtig die Haare und sagte: „Was bin ich für ein Idiot. Was bin ich nur für ein verdammter Idiot.“ Er ließ sich vom Barhocker gleiten, war aber trotzdem noch einen halben Kopf größer als Steffi. Mit großen Augen schaute er auf sie herunter, beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte „Danke. Echt, ich danke dir.“ Dann schaute er fast panisch auf die Uhr, drehte sich um und ging los, kam noch einmal zurück und sagte hastig: „Äh, tut mir Leid, ich … der Bus zum Flughafen geht morgen schon echt früh und … also ...“Steffi grinste. „Nun hau schon ab und ruf sie an. Und mach was aus den nächsten 25 Jahren ...“ aber den letzten Satz hörte Jörg schon nicht mehr, er winkte nur noch kurz von der Hotelterrasse aus.Gedankenversunken blieb Steffi an der Bar sitzen. „One more?“ fragte der Barkeeper? Nickend schob sie ihm das Martiniglas zu, wartete, bis er es gefüllt hatte, und nahm das Glas mit an den Strand. Der Wind hatte aufgefrischt und machte deutlich, dass es auch auf den Kanaren Mitte Dezember war. Trotzdem besser als der kalte Nieselregen in Deutschland, vor dem sie schon vor Jahren über Weihnachten geflohen war. Weihnachten war sowieso nicht ihr Ding, das war ein kitschiges Familienfest. Trotzdem gab es auch schöne Erinnerungen, aber die langen lange zurück.Kurz kamen sie jetzt hoch, die Erinnerungen an den Weihnachtsmarkt in ihrer Heimatstadt, damals, als sie noch klein war und ihre Mutter und sie noch einen liebevollen Umgang miteinander hatten. Die Buden und die Musik, die Gerüche … fast meinte sie, die Mischung aus Glühwein und Kräuterbonbons zu riechen. Auch mit Andreas war sie einmal auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, frisch verliebt, damals hatte es sogar geschneit. Steffi seufzte und drehte sich raus zum Meer. Schon wieder Andreas. Na gut, dann ließ sie die Erinnerung halt zu. Die Erinnerung an die magischsten 4 Monate ihres Lebens und daran, wie sie alles kaputtgemacht hatte …Sie war im fünften Semester ihres Studiums, das Grundstudium hatte sie endlich hinter sich und sie zählte die Tage, bis sie endlich in den Flieger steigen würde. Sechs ganze Monate in Georgia, USA, Auslandssemester plus ein paar Wochen, die sie zum Herumreisen nutzen wollte. Mann, sie konnte es kaum erwarten, endlich mal raus und vor allem nach AMERIKA. Sie war überglücklich, dass das mit der Uni in Georgia geklappt hatte, ihre Freundin Sandra hatte es an die State University in Lincoln, Nebraska, verschlagen … uff, die Arme, da konnte sie ja auch gleich in Ostwestfalen bleiben. Aber Hauptsache Amerika, da waren sich beide einig, und sie hatten auch schon Pläne, nach Abschluss des Semesters gemeinsam durch die Gegend zu reisen. Auch jetzt, während sie sich für die Uniparty fertig machten, quatschten sie natürlich über nichts Anderes als über ihre Pläne. Später dann, auf der rappelvollen Party, hatte Steffi Andreas kennengelernt, ein Jahr älter als sie und im Informatikstudium. Über Informatiker hatte Steffi als Geisteswissenschaftlerin immer Witze gerissen und die üblichen Vorurteile gepflegt, aber Andreas war einfach klasse. Es hatte sie beide komplett von den Füßen gehauen und über die nächsten Wochen waren sie unzertrennlich.Sie traten nur noch im Zweierpack auf und Steffi wunderte sich selbst am meisten, wie leicht alles mit Andreas war. Fast wartete sie auf den Tag, an dem er ihr auf die Nerven gehen würde, so wie es mit ihrem Ex-Freund gewesen war, aber der Tag kam nicht. Mittlerweile wohnte er schon fast bei ihr, musste nur alle paar Tage mal in seine WG zurück, um frische Wäsche zu holen oder sich doch mal für ein paar Stunden ein paar Referaten oder Hausarbeiten zu widmen. Steffi hatte eine kleine Wohnung, WG war absolut nicht ihr Ding, dafür ging sie dann lieber in den Semesterferien und am Wochenende kellnern. So konnte Andreas problemlos bei ihr wohnen und schon bald standen seine Zahnbürste und sein Rasierer neben ihren Sachen. Alles war wie auf Wolken, sie konnten reden und diskutieren, schweigen und lachen, kitschige und anspruchsvolle Filme schauen, mit Leuten zusammen oder allein sein, hatten viele ähnliche Ansichten und tolerierten problemlos ihre unterschiedlichen Meinungen. Manchmal dachte Steffi, sie wäre in einem langen, wunderbaren Traum, und auch Andreas ging es nicht anders. Eigentlich war es für beide klar, dass es einfach so weitergehen würde, denn Steffi konnte sich nichts und niemanden vorstellen, warum diese Beziehung jemals wieder auseinandergehen sollte. Bis auf den einen Abend. Diesen einen, furchtbaren Abend Ende Januar.Sie waren gut vier Monate zusammen und Andreas übernachtete mal wieder bei ihr. Wie jeden Abend kniete sich Steffi auf ihr Bett und wollte ein dickes Kreuz in ihren Kalender machen, auf dem sie die Tage bis zur Abreise im März zählte. Andreas lag auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und beobachtete sie. Als sie sich an ihn kuschelte, voller Glück und voller Liebe, räusperte er sich. „Du, sag mal … das mit Amerika, das hat sich doch eigentlich erledigt, oder?“ Steffi runzelte die Stirn, sie wusste nicht, was er meinte. Sie rückte ein bisschen ab und stützte sich auf ihren Ellbogen, malte mit der anderen Hand Muster auf seine Brust, während sie ihn fragend ansah. Er hielt ihre Hand fest und setzte sich hin. Ohne sie anzuschauen sagte er: „Na, mit deinem Auslandssemester … du willst doch nicht immer noch fahren, oder?“ Steffi war sprachlos. Sie meinte, sich verhört zu haben. Seit sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie ihm doch immer wieder davon erzählt, von ihrer Vorfreude, ihren Plänen, er kannte Sandra und hatte sie sogar scherzhaft gebeten, gut auf Steffi aufzupassen. Und jetzt so ein Spruch?„Andreas, was soll das jetzt? Ich verstehe echt nicht, was los ist. Wo ist auf einmal dein Problem mit Amerika?“Andreas schaute sie an und biss die Zähne zusammen. Dann verzog seine Oberlippe sich zu diesem schiefen Grinsen, was sie anfangs mal als süffisantes Lächeln missdeutet hatte aber mittlerweile einfach nur noch liebte. Auch jetzt musste sie sich beherrschen, nicht mit dem Finger seine Lippe nachzuziehen. „Steffi, ich möchte nicht, dass du gehst. Nicht sechs Monate. Nicht mal einen Monat, um ehrlich zu sein. Ich kann mir ein Leben ohne dich einfach nicht mehr vorstellen.“ Stefanie lachte. „Ach, Andreas, mir geht das doch auch so. Ich werde dich auch total vermissen. Aber guck mal, es sind doch echt nur sechs Monate. Du kannst dich endlich mal wieder richtig aufs Studium konzentrieren und für mich wird die Zeit natürlich eh viel schneller rumgehen. Gut, wir können nicht groß telefonieren, das ist zu teuer, aber wir können uns schreiben, sooo lange sind die Briefe ja nicht unterwegs. Und ich kann dort bestimmt auch mal in den Computerraum und wir können chatten oder so.“ Sie wollte sich wieder an ihn kuscheln, aber er drückte sie weg. „Stefanie, du verstehst das nicht. Ich will nicht ohne dich sein. Seit ich dich kenne … du bist einfach alles für mich, meine Zukunft und mein Leben. Mir ist es egal, ob du dein Studium beendest oder nicht, ich kann später garantiert für uns beide sorgen. Stefanie, wenn ich dich sechs Monate nicht sehen kann, gehe ich kaputt. Bitte, geh nicht.“ Was, um alles in der Welt, sollte sie jetzt tun?Stefanie war völlig starr. Sie schaute auf Andreas als wäre es ein Fremder. Sie stand auf und stellte sich mitten ins Zimmer, körperliche Nähe konnte sie jetzt nicht ertragen. Andreas saß in ihrem Bett wie ein verwundetes Reh, sie konnte sehen, dass er mit den Tränen kämpfte. Ratlos und fassungslos sagte sie: „Andreas, ich verstehe das nicht. Es ist doch nur ein halbes Jahr. Sechs Monate, ein Bruchteil unseres gemeinsamen Lebens. Das wird unsere Beziehung problemlos verkraften. Du weißt, dass du nicht eifersüchtig sein musst und dass ich dich auch nie betrügen würde. Das verspreche ich dir hoch und heilig. Aber ich kann nicht hierbleiben. Ich muss nach Amerika, Andreas, versteh das doch. Ich kann nicht bleiben. Ich muss das machen, weil ich es sonst ewig bereuen würde.“ Dieser Blick, sein zutiefst verletzter und völlig verzweifelter Blick, sie konnte ihn kaum ertragen.Und während sein Mund die nächsten Worte formte, in der Zeit, die sie brauchte, um zu verstehen, ganz zu verstehen, dass er jetzt, in genau diesem Moment mit ihr Schluss machte, weil er es anders nicht meinte aushalten zu können, hörte und fühlte sie ganz deutlich, wie ihr Herz brach.Am nächsten Tag war Andreas verschwunden. Weg, einfach weg, spurlos und ohne sich jemals wieder zu melden. Auch seine Freunde hatten keine Ahnung, wo er war oder wollten es ihr nicht sagen und seine Eltern hatte sie nie kennengelernt. Nach endlosen durchheulten Nächten voller Sorge, dass er sich was angetan haben könnte und einem Nachmittag in der Notaufnahme wegen akuter Atemnot und Kreislaufproblemen beschloss Stefanie, das Kapitel Andreas ein für alle Male zu schließen. Wenig später stieg sie in den Flieger nach Atlanta und setzte in den folgenden sechs Monaten alles daran, Andreas Herrmann für immer zu vergessen. Und es gab nie wieder einen Mann, denn sie auch nur einen Bruchteil so weit in ihr Herz gelassen hatte, wie ihn. Stattdessen verlor sie sich in oberflächlichen Bekanntschaften, legte sich für ihre Flirts einen anderen Namen zu und konzentrierte sich nach dem Studium und ihrer Weltreise voll und ganz auf ihr Leben als zunehmend erfolgreiche Lektorin und Verlagsassistentin. Ein perfektes Leben mit eigener Wohnung, Reisen, aufregenden Begegnungen, abwechslungsreicher Arbeit, genug Geld und guten Freunden. Der beste Beweis, dass sie Andreas absolut nicht brauchte, um ein glückliches Leben zu führen. Schließlich hatte sie alles, was sie immer gewollt hatte. Oder etwa nicht? Fast trotzig trank Stefanie den Rest ihres Martinis aus und schleuderte das leere Glas in die Wellen. Der Wind nahm an Stärke zu, verwandelte sich in einen kleinen Sturm. Was sollte das denn jetzt? Stefanie drehte sich um und versuchte, das Hotel zu finden, doch der Sand wirbelte immer mehr auf und stach ihr ins Gesicht und in die Augen, die sie mit den Händen schnell bedeckte. Sie fing an in die Richtung zu torkeln, in der sie das Hotel vermutete, doch der Sand war wie Morast und sie kam kaum voran. Der Wind wurde lauter und lauter, es wurde wärmer und alles drehte sich, das Rauschen des Windes wurde zum Brüllen, als sie blind und taub in den weichen Sand fiel und sich panisch zusammenrollte.Sie fiel und fiel, es drehte sich, Gesichter und Geräusche zogen an ihr vorbei. Sie hörte Musik, Gelächter, erkannte ihre Kinder, ihren Mann, aber alles zog blitzschnell vorüber. 'Sterbe ich?' dachte sie verwirrt, aber irgendwie war auch das nur ein kurzer und diffuser Gedanke. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr geschah.Plötzlich ließ das Drehen etwas nach und aus den verschwommenen Flecken wurde das Gesicht von Jenny, der älteren Frau aus dem Café. Das Gesicht wurde schärfer und das Drehen ließ fast ganz nach, wurde zu einem beruhigenden Wiegen. Fast, als wäre sie bei ihrer Mutter im Arm, so wie früher, wenn sie getröstet wurde. Irgendwie war Jennys Gesicht auch gleichzeitig das ihrer Mutter, doch auch sich selbst erkannte Steffi darin … völlig verrückt.„Steffi, hör mir zu“ sagte Jenny eindringlich. „Dein Leben ist immer das, was du daraus machst. Was du JETZT daraus machst, in jedem einzelnen Moment. Mit jeder Entscheidung, die du triffst, entscheidest du dich auch gegen eine andere Sache. Das kannst du nicht ändern und kannst es oft nicht rückgängig machen. Ob als erfolgreicher Single oder ebenso erfolgreiche Geschäftsfrau mit Familie, auf Reisen durch die ganze Welt oder mit festen Wurzeln in deiner Heimat – du hast immer dich selbst dabei. Und nur du entscheidest über Glück und Zufriedenheit, nicht die anderen. Niemand ist Schuld daran, wie es dir geht, was du empfindest, was du bekommst oder nicht bekommt. Einzig und allein deine Einstellung zählt. Nur du kannst deine Wünsche verwirklichen, aber dafür musst du herausfinden, was DU wirklich willst. Wenn dein derzeitiges Leben dich nicht glücklich macht, dann sorg DU dafür, dass du wieder zufrieden sein kannst. Aber erwarte nicht, dass andere für dein Glück verantwortlich sind. Und nun los, jemand wartet schon auf dich.“Das Drehen verstärkte sich wieder und Jennys Gesicht begann zu verblassen. „Warte,“ rief Steffi verwirrt. „Geh nicht weg. Wann sehe ich dich wieder? Ich habe noch so viele Fragen an dich ...“Von ganz weit weg hörte Steffi Jenny lachen. „Du wirst mich wiedersehen. Ich bin du und du warst ich. Wir sehen uns wieder. Aber ob du mich so wiedersiehst, wie du mich heute erlebt hast, oder völlig anders, das liegt an dir … nur an dir ...“ Und mit diesen rätselhaften Worten war Jenny verschwunden, das Drehen nahm wieder an Fahrt auf und Steffi schwanden endgültig die Sinne.„Mama? Maaamaaaaa! Meine Güte, total weggetreten. Papa, ich krieg Mama nicht wach, komm doch mal.“„Steffi? Stefanie, du musst mal langsam aufstehen.“ Jemand rüttelte sanft ihre Schulter. Stefanie blinzelte. Sie fühlte sich, als ob sie ganz langsam vom Grund eines sehr tiefen Teichs auftauchte und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Sie lag lang ausgestreckt, aber es war nicht Jennys weiches Sofa, auch keine Strandliege, sondern ihr eigenes Bett. Und auf der Bettkante saß auch nicht Jenny, sondern Andreas, der sie mit seinem schiefen Grinsen belustigt ansah. „Meine Güte, du hast aber gepennt. War nötig, was? Aber jetzt steh mal besser auf, es ist gleich schon 18 Uhr und die Kids wollen langsam los.“ sagte er, während er das Schlafzimmer verließ. Hä?Kids? Wollten los? 18 Uhr? Aber es war doch schon nach sechs gewesen, als sie noch mit Jenny im Café gesessen hatte … war alles nur ein Traum? Nein, dafür war die Erinnerung viel zu deutlich. Energisch setzte Steffi sich auf, ging ins Badezimmer und klatschte sich erstmal kaltes Wasser ins Gesicht. Prüfend schaute sie sich im hellen Licht des Spiegels an. Sie sah aus wie immer: Ein bisschen müde um die Augen … ihre olivgrünen Augen … Jennys Augen … Verwirrt schüttelte Steffi den Kopf und griff  zu ihrer sündhaft teuren Augencreme. Als sie den kleinen Deckel aufgeschraubt hatte, blickte sie sich wieder an, hielt inne, schmunzelte leicht und schraubte die Tube wieder zu. Was hatte sie neulich in der Ökotest gelesen? Auch die teuerste Creme kann Falten nicht rückgängig machen. Stattdessen aber ein Menge Chemie in den Körper schleusen. Also, ab in den Müll damit.Langsam ging Stefanie die Treppe runter. Sie hörte, wie die Kinder sich gegenseitig gutmütig ärgerten, während sie anscheinend Schuhe und Jacken anzogen. Beim Blick ins Wohnzimmer blieb sie verdutzt stehen: Der Baum war wunderbar geschmückt, ein Teller mit frisch gebackenen Keksen stand auf dem Couchtisch, alle Kisten mit restlicher Deko waren weggeräumt, stattdessen brannten ein paar Kerzen auf der Fensterbank. Aus der Küche hörte sie Geklapper und ging hin. Andreas hatte einen Latte Macchiato für sie gemacht, den er ihr vor die Nase hielt. „Hier, trink erstmal einen Kaffee, du bist ja noch gar nicht richtig wach. Geht ihr schon vor?“ rief er in Richtung Flur.„Klar, wir sind eh schneller als ihr beiden Alten“ kam die freche Antwort ihres Sohnes. Mit unglaublichem Lärm, als verließe eine ganze Elefantenherde den Flur, machten sich die beiden auf. Ihre Tochter rief gerade noch „19:00 Uhr vorm Nussknacker, Handys haben wir mit.“, bevor die Tür ins Schloss fiel. Stefanie sah Andreas an, die plötzliche Stille dröhnte in ihren Ohren.„Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.“ sagte sie und tunkte eins der etwas zu braunen Plätzchen, die es nicht auf den Adventsteller geschafft hatten, in ihren Milchschaum.Eine Viertelstunde später ging sie mit Andreas den Weg in die Stadt … schon wieder in die Stadt … allerdings war sie heute anscheinend den ganzen Nachmittag im Bett gewesen. Stefan hatte ihr eine kurze Zusammenfassung gegeben: „Wir wollten schmücken, so wie immer. Aber irgendwie war die Stimmung mies, die Kinder hatten keinen Bock und du bist irgendwann abgedreht. Kopfschmerzen hattest du ja schon seit heute Morgen und da wolltest du dich hinlegen. Als du weg warst, wollte Lena lieber Plätzchen backen, statt zu schmücken und hat sich in die Küche verzogen. Luis und ich haben dann den Baum geschmückt und uns sogar mal wieder ganz gut unterhalten. Irgendwann kam Lena dann wieder dazu und meinte, sie hätte Lust, dass wir alle zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen und sie wollte mal nach dir gucken. Du hast geschlafen wie eine Tote, sie hatte fast ein bisschen Angst, bis sie merkte, dass du noch atmest.“ lachte er.Schweigend hörte Steffi zu. Sie war gar nicht in der Stadt gewesen? Aber sie hätte schwören können … merkwürdig. Sie sah Andreas, ihren Andreas, von der Seite an und ihr Herz klopfte tatsächlich ein bisschen schneller. Diese Erinnerungen oder dieser Traum oder was immer es war an ihre erste, verliebte Zeit war noch ganz frisch. Doch auch die Erinnerung an den Abend, an dem sie sich entschieden hatte, ihren Traum vom Ausland zu begraben, wurde wieder lebendig. Es war ihr unglaublich schwer gefallen, ihre Kommilitonen hatten sie absolut nicht verstanden und sie hatte heute noch ein total schlechtes Gewissen, weil auch Sandra sofort ihr Austauschsemester abgesagt hatte, in totaler Loyalität. Gut, ungefähr 2 Monate später hatte Sandra ihren jetzigen Mann kennen gelernt und ihr auch mal gestanden, dass sie eh Angst vor einer so langen Zeit im Ausland gehabt hatte. Und Steffi selbst hatte in ihrer pragmatischen Art irgendwann nicht mehr gehadert, sondern sich voll und ganz für Andreas entschieden, sie waren zusammengezogen und hatten direkt nach dem Studium geheiratet. Insgeheim hatte sie gehofft, sie würden dann gemeinsam einige Reisen nachholen, aber dafür hatten sie einfach nie Zeit gefunden. Außer natürlich für die jährlichen Familienurlaube an der Nordseeküste oder in Dänemark. Aufregend, wirklich. 'Und heute zeugt nur der Stapel an Reiseführern in der Schrankwand von meinem stillem Fernweh' seufzte Steffi innerlich.Als hätte er das gespürt schaute Andreas zu ihr rüber und legte den Arm um ihre Schulter. „Du, neulich hast du doch mal gefragt, ob ich Pläne hätte, für später, wenn die Kinder weg sind. Ich habe noch mal nachgedacht. Vielleicht sollten wir uns wirklich mal Gedanken machen, wie wir unsere … oh Gott, das hört sich furchtbar an, also unsere zweite Lebenshälfte gestalten. Immer nur so weiter vor uns hin arbeiten und samstags mal ins Kino, das kann es ja irgendwie nicht sein. Sonst gehe ich irgendwann noch sonntags zum Frühschoppen wie mein alter Herr.“ schnaubte er. Steffi konnte ihn nur sprachlos angucken und nicken. Aber Stefan merkte das gar nicht, er war in Fahrt: „Und warum sollten wir nicht jetzt schon anfangen? Ich meine, die beiden sind zwar noch nicht aus dem Haus, aber sie können ja wohl mal eine Zeit alleine bleiben, oder? Was hältst du davon, wenn wir im Februar einfach mal eine Woche wegfahren, nach Wien? Ich habe neulich einen Bericht gelesen über ein echt gutes Hotel, mit Wellness und so … eigentlich wollte ich dir das zu Weihnachten schenken, aber ich dachte, ich frage dich lieber.“ beendete er etwas unsicher seine Rede. Stefanie blieb stehen. „Eine volle Woche? In der Schulzeit? Aber die Kinder ...“ „... sind 17 und fast 15 und werden es wohl hinkriegen, sich nicht umzubringen. Außerdem kann dein Vater ja mal nach dem Rechten sehen.“ sagte Stefan mit Bestimmtheit. Sie gingen weiter.Stefanies Herz klopfte jetzt so richtig. Du entscheidest, was dich glücklich macht, dachte sie. Vielleicht musste sie wirklich einfach mal loslassen, sich nicht immer für alles und jeden verantwortlich fühlen. „Und weißt du, was ich auch mal irgendwann machen möchte?“ mischte sich Stefans Stimme wieder in ihre Gedanken. „Quer durch Frankreich, so einen richtigen Roadtrip bis in die kleinsten Dörfer. Wir haben echt bisher viel zu wenig von der Welt gesehen, oder? Vielleicht wäre das ja schon mal ein guter Plan für später.“Und wieder konnte Stefanie nur nicken. Irgendwie war das fast zu schön um wahr zu sein … Der Weihnachtsmarkt kam in Sicht- und Riechweite und es war rappelvoll. Sie schlenderten durch die engen Reihen und wurden geschoben und gestoßen, bis sie vor eine Bude mit wunderbarem Schmuck gespült wurden. „Halt, warte mal!“ rief Steffi, als sie aus dem Augenwinkel hinter der Verkäuferin etwas sah. Andreas blieb stehen, er kannte ihre Vorliebe für ausgefallenen Schmuck. Mit trockenem Mund sprach Stefanie die Verkäuferin an: „Hallo, kann ich mir wohl bitte mal die Kette da an der Wand anschauen?“ „Aber natürlich,“ sagte die Verkäuferin freundlich und löste die lange Silberkette vom blauen Samt, mit dem die Budenwände ausgeschlagen waren. Mit zitternder Hand nahm Steffi die Kette entgegen. Eine lange Kette aus Silber, an deren Ende ein tropfenförmiger, mit Silberfäden umwickelter Bergkristall hing. Ihr lief ein Schauder über den Rücken. Andreas trat neben sie. „Wow, die ist ja toll. Wunderschön und wie für dich gemacht.“ „Das ist echtes Silber mit einem Bergkristall, ein Unikat.“ erklärte die Verkäuferin den beiden, wozu er höflich nickte, während Stefanie sich wie in Trance fühlte. „Weißt du was?“ fragte Andreas sie leise, „ich möchte dir die Kette gerne schenken. Nicht zu Weihnachten, einfach so. Das habe ich schon viel zu lange nicht mehr gemacht.“ Steffi konnte nur nicken und stand immer noch wie gelähmt, während Andreas die Kette bezahlte und  die Frage nach einer kleinen Tüte verneinte. Stattdessen nestelte er ihre Jacke auf, nahm ihr den Schal ab – Stefanie konnte sich immer noch nicht richtig bewegen – und hängte ihr die Kette um. „Wunderschön,“ sagte er und gab ihr einen schnellen Kuss. „So, jetzt aber schnell wieder warm verpacken, bevor du Weihnachten krank unterm Baum liegst. Komm, wir gehen weiter. Wie wäre es mit einer Wurst?“ neckte er sie und zog sie an der Hand durchs Gedränge. Steffi tapste hinter ihm her wie ein Kind. Sie drehte sich um, aber in der Menschenmasse konnte sie den Schmuckstand schon nicht mehr sehen. War das jetzt gerade wirklich passiert? Doch, sie konnte den Anhänger ganz deutlich fühlen, als sie durch die Jacke nach ihm tastete. Was hatte das zu bedeuten? Mit weichen Knien ließ sie sich von Andreas zum Glühweinstand ziehen und hielt bald darauf einen Becher Glühwein in der Hand.Nach ein paar Schlucken drehte Steffi sich um und blickte auf die festlich angestrahlte alte Kirche. Ein Kribbeln meldete sich in ihrem Bauch. Sie schaute Stefan an: „Können wir mal gerade durch die Kirchgasse gehen? Ich muss was gucken ...“ Stefan schaute sie erstaunt an, zuckte aber mit den Schultern und sagte: „Klar, aber was willst du denn gucken?“ „Ach, ich habe … in der Zeitung stand neulich was von so einem Café ...“ Andreas runzelte die Stirn. „Ein Café habe ich da bewusst noch nie gesehen. Na, dann los.“ und wieder stürzten sie sich in die Menschenmasse, bis sie am Eingang der Kirchgasse ankamen.Ihre Schritte hallten in der Kirchgasse wieder, die Geräusche vom Weihnachtsmarkt wurden schnell verschluckt. Unbewusst wurde Steffi schneller, da vorne war die Kurve, in der sie das Café entdeckt hatte. Müsste sie jetzt nicht schon die Musik hören? Das Flackern der Laternen sehen? Fast atemlos bog sie um die Kurve, und da, auf der linken Seite … stand ein Haus wie die anderen auch. Es war komplett dunkel, die Stufe vor der Eingangstür war ausgetreten, das Holz verwittert. Die Fenster waren blind und das ganze Haus machte einen unbewohnten und vor allem leicht heruntergekommenen Eindruck. Eine Mischung an Gefühlen machte sich in Steffi breit, Enttäuschung auf der einen Seite, klar, aber auch ein leichtes Gefühl, verrückt zu werden. Sie konnte doch alles ganz genau vor sich sehen, die Beleuchtung, die Laternen, sie hörte fast die sanfte Musik. Stefanie trat näher ans Fenster und versuchte, durch die blinde Scheibe ins dunkle Innere zu schauen. Nichts, ein leerer Raum, in der Ecke ein umgekippte Stuhl, einige Zeitungsblätter und eine Menge Dreck. Andreas sah sie fragend an. „Ach, da habe ich mich wohl geirrt,“ sagte Steffi matt. Andreas wartete. Er merkte, dass sie sehr aufgewühlt war und wollte anscheinend mehr hören. Also holte sie kurz Luft und sagte: „Hier war … also, ich dachte … jedenfalls habe ich mal ein Café gesehen in genau so einem Haus. Eine Art Lesecafé, mit vielen Bücherregalen und gemütlichem Sofa und Tischen und so, toll dekoriert, und an einer Seite eine kleine Theke für Kaffee und Gebäck. Da dachte ich wohl, ...“ Mist, jetzt brach ihre Stimme und sie musste gehörig schlucken.Andreas nahm sie in den Arm und drückte sie. „Das hört sich an wie das, was du mir früher mal erzählt hast. Weißt du noch, direkt als wir uns kennengelernt haben?“ fragte er leise und liebevoll. „Da waren wir nachmittags mal in einem Café und du hast dich umgeguckt und mir erzählt, dass du das ganz anders aufziehen würdest. Gemütlicher, mit kleinen Nischen oder verschiedenen Möbeln, alten schwarzweiß-Fotos an den Wänden und vor allem ganz vielen Büchern, neu und gebraucht, die man lesen oder auch kaufen könnte. Du hattest sogar die Idee, dass Leute mit ihren Büchern für den Kaffee zahlen könnten.“ lachte er und drückte sie noch mal liebevoll. Steffi machte große Augen. Oh Mann, er hatte Recht, mit Mitte zwanzig hatte sie mal die Idee gehabt, mit Sandra zusammen so ein Café aufzumachen … begeistert hatte sie das sogar ihren Eltern erzählt und die hatten ihr gehörig den Kopf gewaschen. Die Worte ihres Vaters kamen ihr wieder in den Sinn: „Du studierst doch wohl nicht, um Kellnerin zu werden!“ hatte er fast geschrien. Meine Güte, das hatte sie echt total verdrängt, unglaublich. Andreas hielt sie fest und murmelte in ihren Schal: „Das scheint ja doch ein echter Herzenswunsch von dir zu sein, wenn du nach all den Jahren immer noch daran denkst, oder?“ Ein Herzenswunsch. 'Nur DU kannst deine Wünsche verwirklichen' hallte eine Stimme in ihrem Kopf. Stefanie lehnte sich ein wenig zurück und schaute Andreas nachdenklich und aufgeregt zugleich an. „Vielleicht ist das wirklich ein Herzenswunsch von mir,“ sagte sie langsam. „Einer, der lange verschüttet war. Ein Lesecafé … oh Mann, kannst du dir mich in einem Lesecafé vorstellen, Kaffee zapfend?“ lachte sie unsicher. „Dich als Besitzerin eines Lesecafés?“ fragte Andreas überraschend ernsthaft. „Du als jemand, der perfekt beraten kann, wenn es um Bücher geht, weil er selbst liest wie verrückt? Jemand, der blitzschnell Menschen einschätzen kann und somit auch schnell herausfindet, welche Art Literatur genau richtig für denjenigen ist? Jemand mit Geschmack und Stil, der aus jedem Raum ein Zuhause macht und allem seinen persönlichen Stempel aufdrückt? Jemand, der Bücher und die Geschichten darin über alles liebt, stundenlang darüber reden kann und für den die Figuren in einem guten Buch zu echten Freunden werden? Und jemand, der seinen Latte Macchiato wirklich zelebriert?“ Wow, das dachte er von ihr? Stefanie stiegen Tränen in die Augen, sie war gleichzeitig gerührt und fast ein bisschen beschämt, dass er so leidenschaftlich von ihr sprach. Und während sie zum gefühlt einhundertsten Mal an diesem verrückten Tag Tränen aus den Augen wischte, hörte sie ihn sagen: „Weißt du was, Steffi? Ja, das kann ich. Sehr gut sogar ...“Stefanie wand sich aus Andreas' Armen, weil sie dringend ein Taschentuch brauchte. Während sie schnüffelte und tupfte und sich schnäuzte, ging Andreas zum anderen Fenster. Er schien dort irgendwas zu lesen oder genau zu studieren. Prüfend sah er zu ihr herüber und machte ihr durch eine Kopfbewegung deutlich, dass sie mal herkommen solle. Sie ging zu ihm, neugierig, was er gefunden hatte. Im Fenster klebte von innen ein handgeschriebenes Schild: „Zu verkaufen von privat, provisionsfrei“, komplett mit Kaufsumme und Telefonnummer. Nachdenklich schaute Andreas sie an. „Die Kaufsumme ist ein Witz,“ sagte er „auch, wenn man hier natürlich noch einiges reinstecken müsste an Geld und vor allem Zeit.“„Jetzt spinn doch nicht,“ sagte Steffi und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. „Ich kann doch nicht so mir nichts, dir nichts alles hinschmeißen, meinen Job kündigen und einfach mal ein Café aufmachen. Ich habe doch keine Ahnung, wie das geht, was man tun und beantragen muss, wie das mit den ganzen Auflagen und Vorschriften ist und überhaupt. Stell dir vor, wir machen das wirklich, investieren hier ein Heidengeld und dann geht alles nach einem Jahr den Bach runter? Stell dir vor, wenn ...“ „Hoo, Braune!“ unterbrach Andreas ihr nervöses Geschnatter. „Ich habe ja erstmal nur gesagt, dass wir dieses Haus kaufen könnten. Natürlich brauchen wir noch Informationen, einen Sachverständigen und, und, und. Aber Geld in eine Immobilie anzulegen ist sicherlich nicht verkehrt, zumal die Lage hier wirklich gut ist. Lass es uns doch einfach mal durchspielen und verrückte Pläne schmieden, warum denn nicht? Und wenn es mit deinem Café nicht klappt, dann schmeißen wir Louis und Lena raus und lassen sie hier wohnen ...“ fügte er trocken hinzu.Stefanie grinste gequält. Auch eine verlockende Vorstellung … Aber meinte er das jetzt wirklich ernst? Wollte er dieses kleine Häuschen kaufen und sie dabei unterstützen, ihr Leben wegen eines alten, total verrückten und vielleicht sogar zum Scheitern verurteilten Traumes komplett umzukrempeln?Andreas holte sein Handy aus der Jacke und begann, die Nummer einzuspeichern. Fragend sah er sie an. „Und? Was meinst du – sollen wir da morgen einfach mal anrufen?“Stefanie holte tief und zittrig Luft, presste kurz ihre Lippen zusammen, und schaute ihn an. Wie er da stand, völlig ruhig und gelassen, aber mit einem sehr abenteuerlustigen Funkeln in den Augen. „Ja,“ sagte Steffi und lauschte ihrer eigenen, gerade sehr dünnen Stimme. Echt? Wirklich? Sie fühlte, wie das Kribbeln aus dem Magen hochstieg in ihre Kehle, in jede Faser ihres Körpers, und sagte es noch mal, lauter und sicherer dieses Mal: „Ja. Okay. Wir machen das.“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, fühlte sie, wie der Anhänger unter ihrer Jacke pulsierte und ganz warm wurde. Doch genau so plötzlich war es wieder vorbei – und trotzdem war Stefanie sich sicher, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Andreas steckte sein Handy wieder ein und sah auf die Uhr. „Ups, fast sieben, die Kinder warten. Na, denen haben wir auch einiges zu erzählen, was?“ Stefanie nahm die Hand, die er nach ihr ausstreckte. „Ja,“ sagte sie. „Es gibt wirklich einiges zu erzählen ...“. Im Weggehen drehte sie sich noch einmal zu dem Haus um. Die Scheiben waren blank, aus ihnen ergoss sich warmes Licht in die dunkle Gasse. In der offenen Tür lehnte Jenny, von der Stefanie jetzt genau wusste, wer sie war, und der kleine Kater rieb sich an ihren Knöcheln. Sie lächelte sehr zufrieden und hob die Hand, um Stefanie zuzuwinken. Dann löste sie sich vom Türrahmen, ging hinein, der Kater flitzte schnell hinterher als die Tür ins Schloss fiel. Und obwohl Haus und Gasse sofort wieder stockdunkel waren, hatte sich das Bild fest in Stefanies Herz eingegraben. Sie war zum ersten Mal seit ewig langer Zeit einfach nur glücklich. Aufgeregt, zuversichtlich, gespannt auf die Zukunft, ein bisschen ängstlich natürlich, aber in erster Linie glücklich. Mit einem Mal begannen die mächtigen Glocken der alten Kirche zu schlagen, erst eine, dann alle drei zusammen, während eine erste Schneeflocke sich aus der Dunkelheit löste und die Vorhut bildete für alle weiteren, die in den Wolken warteten. Wie hatte sie jemals den Wunsch haben können, Weihnachten alleine auf einer Insel zu verbringen?„Das Leben ist immer das, was DU daraus machst.“ flüsterte Stefanie zu sich selbst. „Hm?“ fragte Andreas von der Seite. „Ich freu mich auf Weihnachten. Und auf die Kinder. Und auf uns. Auf unsere Zukunft.“ sagte sie aus tiefstem Herzen, bevor sie ihrem Mann einen langen Kuss gab. „Boah, iih, steht ihr hier rum und knutscht, oder was?“ ertönte plötzlich eine bekannte Stimme. „Luis, die sind schon wieder total peinlich, mach doch mal was.“ Vor ihnen standen Lena und Luis, Lena etwas angeekelt, Luis mit breitem Grinsen. „Ach, Lena, du weißt doch, Weihnachten werden alte Leute immer sentimental.“„Genau,“ sagte Andreas, während er sich bei Lena einhakte und Stefanie Luis' Arm nahm. „Aber wartet mal ab, was diese beiden alten Leute euch gleich zu erzählen haben.“„Oh Gott, Mama, du bist aber nicht schwanger, oder?“ japste Lena entsetzt. Stefanie grinste Andreas über den Kopf ihrer Tochter an, während sie gleichzeitig beruhigend den Kopf schüttelte. Nein, eine Schwangerschaft war in ihren neuen Plänen definitiv nicht mehr vorgesehen. Aber trotzdem –  mit dieser verrückten Familie konnte die Zukunft ja eigentlich nur fantastisch werden. 
WortParade Dorothee Bluhm
 Sofort für Sie da ...

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